Viele der Opfer sind minderjährig. Die Täter nutzen…
Lubjana sitzt in ihrem Arbeitszimmer in einem Bordell der Region und wartet auf Freier – doch nur wenige kommen. Die 32-Jährige stammt, wie etwa die Hälfte der Sexarbeiterinnen in der Region, aus Osteuropa. Einen Großteil des Geldes schickt sie in die Heimat. Doch in den letzten Monaten ist nicht viel übrig geblieben.
Der Corona-Lockdown hat auch die Sex-Branche hart getroffen. Alle Bordelle wurden am 14. März geschlossen. „Die Frauen arbeiten fast ausnahmslos als Selbstständige und haben von einem Tag auf den anderen ihr komplettes Einkommen verloren“, berichtet Birgit Reiche, Leiterin der Beratungsstellen Theodora und Tamar, die Prostituierte beraten und Hilfe anbietet. Fatalerweise musste die Beratungsstelle im Kreis Soest mitten im Lockdown – nämlich am 14. April – ihre Arbeit einstellen, weil EU-Fördermittel ausliefen und der Kreis nicht bereit war, selbst dafür Geld in die Hand zu nehmen.
Im Kreis Paderborn arbeitet der Dienst, hinter dem die evangelische Frauenhilfe steht, unter dem Namen „Theodora“ mit einer zentralen Anlaufstelle in Herford, beraten wird jedoch auch vor Ort im Kreisgebiet.
Die Mitarbeiter fahren in die Bordelle und Laufhäuser, versuchen mit den Frauen zu sprechen und zu erfahren, wo der Schuh drückt.
Insbesondere Sprachbarrieren machen es den Prostituierten oft schwer, sich an staatliche Stellen zu wenden. Die Frauenhilfe verteilt mehrsprachige Flyer und setzt auf Gespräche. „Zahlreiche Frauen haben sich während des Lockdowns aus wirtschaftlicher Not an uns gewendet“, berichtet Reiche. Während Selbstständige aus fast allen Branchen von der Corona-Soforthilfe profitierten, wurde den Prostituierten dieses Geld verweigert, da sie offiziell kein Gewerbe anmelden müssen. Oft fehlt den Damen zudem eine Meldeanschrift in Deutschland.
Hilfe kam vom Bundesverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen, der jedoch mit Anträgen überhäuft wurde. Nur wenige Damen profitieren letztlich von dem Programm.
Der Ausweg führt für viele Damen in die Illegalität: Im Internet boom das Sex-Gewerbe – allerdings ohne die strengen Regeln des Prostitutionsschutzgesetzes, was die Damen vor Ausbeutung, Menschenhandel und Zuhälterei schützen soll.
Lubjana hat sich im Lockdown im Internet angeboten, die Männer in Privatwohnungen oder auf Parkplätzen oder Raststätten an der Autobahn bedient und dabei prügelnde Kunden, Freier, die nicht zahlen und Sexpraktiken, die das Gesetz ausdrücklich verbietet, erlebt. Doch Lubjana beugte sich dem Druck, denn sie braucht dingend Geld, um ihre Miete zu zahlen und ihre Familie zu unterstützen.Theodora hat im Lockdown versucht, Frauen in andere Branchen zu vermitteln, beispielsweise als Erntehelferinnen in der Landwirtschaft oder als Regalbefüllerinnen in Supermärkten. Einige Frauen konnten von Theodora in städtische Unterkünfte vermittelt und somit vor der Obdachlosigkeit bewahrt werden. Unklar ist aber, wie viele Frauen wegen des ausgelaufenen Beratungsprogramms „Tamar“ im Kreis Soest letztlich ohne Beratung auf sich selbst gestellt waren.
Seit Mitte September darf Lubjana wieder im Bordell arbeiten – doch die meisten Kunden bleiben aus. Für Lubjana hat das finanzielle Folgen. Sie zahlt neben der Miete für das Zimmer im Bordell für jeden Tag, an dem sie arbeitet, eine Pauschale von 15 Euro an den Bordellbetreiber, der dieses Geld an das Finanzamt weitergeben muss – egal, ob sie an dem Tag Freier empfängt oder nicht.
Als Selbstständige müssen die Damen am Jahresende trotzdem eine Steuererklärung einreichen, erklärt Birgit Reiche von der evangelischen Frauenhilfe. „Für viele Frauen ist das System kompliziert und bürokratisch. Wegen der mangelnden Deutschkenntnisse verstehen viele das nicht.“
Führen die Frauen nicht exakt Buch über ihre Einnahmen und lassen sich die Bescheinigung des Bordells für die Tagesbesteuerung nach dem sogenannten Düsseldorfer Modell ausstellen, schätzt das Finanzamt die Einnahmen: „An uns haben sich Frauen gewendet, wo 3.000 Euro Steuerschulden vollstreckt werden sollten“, so Birgit Reiche.
Dass die Freier aktuell ausbleiben, könnte an den strengen Corona-Regeln liegen, die das Land für die Prostitution aufgestellt hat. „Viele Männer kehren um, wenn sie ihre Adressdaten hinterlassen sollen“, berichtet ein Betreiber, der namentlich nicht in der Zeitung erscheinen will. Freier müssen den Zeitpunkt des Kontaktes, Name, Adresse und Telefonnummer angeben.
Um die Verbreitung des Corona-Virus zu unterbinden, müssen Kunde und Prostituierte Maske tragen, erlaubt ist nur Verkehr zwischen zwei Personen. Getränke – egal ob Champagner oder Wasser – sind in den Arbeitsräumen verboten, dürfen jedoch in angeschlossenen Bars ausgeschenkt werden.
Die Bettwäsche muss nach jedem Kundenkontakt gewechselt und alle Kontaktflächen desinfizierend gereinigt werden. Außerdem ist eine viertelstündige Raumlüftung vorgeschrieben.
Die Folgen könnten ähnlich wie beim Prostitutionsschutzgesetz sein, das 2017 in Kraft trat. Ein Teil wandert in die Illegalität ab.
Unter Freiern bekannte Webportale zur Vermittlung sexueller Dienstleistungen blühen und bieten auch Frauen aus dem NR-Land an, obwohl es hier offiziell nur drei Bordelle gibt.
Das Treffen findet dann oft in Privatwohnungen oder Hotels statt. „Was dort passiert, können wir nicht kontrollieren“, erklärt Sabine Saatmann, Leiterin des Ordnungsamtes im Kreis Soest. Zwar gehen die Behörden konkreten Hinweisen auf Verstöße nach, jedoch hat der Gesetzgeber mit gutem Grund die Privatsphäre der Wohnung besonders geschützt.
Regelmäßige Kontrollen wiederum gibt es in den Bordellen der Region. „Die Kontrollen führen wir oft gemeinsam mit Zoll, Finanzamt und Polizei durch“, so Saatmann. Kontrolliert wird die Umsetzung des Prostitutionsschutzgesetzes, das unter anderem vorschreibt, dass Kondome ausliegen müssen. In den Arbeitszimmern ist ein Notrufsystem vorgeschrieben und es muss Sanitär- und Pausenräume für die Sexarbeiter geben.
Üblich war früher, dass Prostituierte in ihren Arbeitsräumen auch gewohnt haben, was inzwischen verboten ist. Letzteres ist für die Frauen oft eher ungünstig: „So entstehen zusätzliche Kosten für ein Zimmer zum Wohnen“, so Reiche. Viele Bordelle umgehen dies mit Mehrbettzimmern im Keller, die als Wohn- und Schlafräume deklariert werden.
Pflicht ist nun auch, dass sich die Frauen beim Ordnungsamt der Kreise anmelden. Die Anmeldung muss alle zwei Jahre erfolgen und ist bundesweit gültig. Wie viele Frauen aktuell in der Region tätig sind, ist deshalb schwierig zu ermitteln: Angemeldet haben sich im Kreis Soest im vergangenen Jahr 27 Frauen, im Jahr davor 117. Im Kreis Paderborn waren es im Jahr 2018 insgesamt 86 Prostituierte, davon ein Drittel aus Rumänien. „Viele Frauen sind von der Bürokratie überfordert“, bestätigt auch Sabine Saatmann: „Es droht, dass sie in die Illegalität abrutschten.“ Dies führe am Ziel des Gesetzes vorbei, nämlich die Frauen zu schützen.
Im Soester Kreishaus wird deshalb versucht, die Barriere für die Frauen so niedrig wie möglich zu machen und die Anmeldung beim Ordnungsamt mit dem jährlichen Beratungsgespräch beim Gesundheitsamt zu verbinden. Bei Letzterem erhalten die Frauen eine Aufklärung zum Schutz vor sexuellen Krankheiten und Fragen der Krankenversicherung. Für den Kreis Paderborn finden Gesundheitsberatung und Anmeldung in Bielefeld statt.
Eine Besonderheit im Kreis Soest: Der Frauenarzt Peter Stößel bietet in Geseke eine für die Prostituierten kostenfreie Sprechstunde nach Terminvereinbarung unter Tel. 02942 1070 an.
Einig sind sich Frauenhilfe und Ordnungsamt: Ein Verbot der Prostitution würde die Frauen komplett in die Illegalität treiben. Auch Lubjana denkt unterdessen darüber nach, wieder im Internet nach Freiern zu suchen, wenn das Geschäft vor Ort weiter so schlecht läuft. (